分类:Taiji Experience

Vom Kopf in den Bauch in die Welt


Vom Kopf in den Bauch in die Welt

– meine ersten Erfahrungen mit Qi Gong und Tai Chi

oder wie auf wundersame Weise die vielen unnötigen Gedanken der Woche gelöscht werden

Seit Ende letzten Jahres stehe ich jeden Freitag Abend um sechs mit ungefähr zehn chinesischen Teilnehmern in der Gymnastikhalle des Görres. Nach Übungen, die die Wirbelsäule durch langsames Drehen des Kopfes in Bewegung bringen, geht es mit Stillstand weiter: „Stand like a stick“(Zhanzhuang), wie Weimin An, unser Lehrer und Meisterschüler des berühmten Großmeisters Chen Xiaowang sagt: im Stehen sitzend und die Arme nach vorne gestreckt verweile ich mehr als eine halbe Stunde in dieser Position, stehe einfach nur so da.

Das schaffe ich nie. Meine Muskeln sind nicht trainiert. Ich bin jetzt fast fünfzig. Langsam verschwinden die Gedanken, ich spüre meinen Körper mehr: Sind meine Schultern locker, meine Sitzhöcker nach unten gerichtet? Herr An korrigiert nach einigen Minuten meine Haltung auf den Millimeter genau, dann versuche ich sie zu halten. Die Augen sind geschlossen. Das dumpfe Geräusch der fahrenden Autos dringt nicht in mich ein, sondern geht durch mich durch. Immer wieder merke ich, dass ich loslassen muss: die Anspannung im Bauch, auch in den Schultern. Mein Atem geht tiefer nach unten. Und die Oberschenkel fangen irgendwann an zu schmerzen. Ich spüre den Kontakt zum Boden, wie ich mich mit ihm verbinde. Die Zeit scheint sich zu dehnen. Schaffe ich es? Locker lassen. Die halbe Stunde müsste doch schon längst um sein. Mein Körper steht still.

Im zweiten Teil des insgesamt dreistündigen Abends steht dann die Bewegung – das Tai Chi im Vordergrund. Herr An steht vor uns, bewegt sich, wir versuchen zu folgen. Seine Bewegungen wirken fließend, eine scheint sich natürlich aus der anderen zu entwickeln. Sie kommen von innen. Zum Glück gibt es im Raum keine Spiegel. Ich ahme die Bewegungen nach, sie sind mir fremd, faszinieren mich aber. Ob ich das schaffe? Die Abläufe kann ich mir nie merken. Die anderen können das viel besser. Ich versuche es einfach und freue mich an der Bewegung. Ich will Geduld mit mir haben. Und wenn ich dann wieder draußen bin, spüre ich die Kälte plötzlich viel intensiver, gehe über die Kö-Brücke, fühle ihren rauen Belag trotz der dicken Sohlen. Und wünsche mir, dass dieser Zustand der intensiven Wahrnehmung meines Körpers in Kontakt mit der Welt noch bis nächsten Freitag anhält, wenn ich wieder einfach nur stehe, mich langsam bewege, einfach nur bin. Ich muss üben, jeden Tag eine halbe Stunde. Ob das klappt? Ich will es versuchen.

 

Martin Steiner